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Streit über die gesetzliche Unfallversicherung großer IT-Unternehmen - Machen sich Berufsgenossenschaften gegenseitig solvente Betriebe abspenstig?

Datum: 18.05.2016

Kurzbeschreibung: 

Das Landessozialgericht in Stuttgart hat vor wenigen Tagen entschieden, dass ein großes IT-Unternehmen aus dem Raum Stuttgart nicht von der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse in die günstigeren Tarife der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft wechseln darf, da die bisherige Zuordnung rechtmäßig ist. Der Fall hat bundesweit auch für andere IT-Unternehmen Bedeutung, die in günstigere Tarife eines anderen Unfallversicherers wechseln wollen und dies mit geänderten Verhältnissen in den Betrieben begründen. Auch der Streitwert in Höhe von 2,5 Millionen € ist vor den Sozialgerichten nicht alltäglich.

Urteil vom 12.05.2016 - L 6 U 90/16. 

Das IT-Unternehmen (Klägerin) meldete 1959 sein Unternehmen mit dem Unternehmensgegenstand „Herstellung und Vertrieb von elektronischen Geräten und elektronischen Instrumenten jeder Art“ bei der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) an und wurde dort aufgenommen. Nach ihrem aktuellen Internetauftritt bietet die Klägerin „Integrierte Systeme, Software, Server (Rack-, Tower- und Bladeserver), Speicher und Netzwerke“ an. 

Seit dem Jahr 2003 hat die Klägerin die Zuständigkeit der BG ETEM in Zweifel gezogen und geltend gemacht, sie habe sich in den letzten 30 Jahren mehr und mehr weg von einem produzierenden hin zu einem verwaltenden Unternehmen entwickelt, da große Teile der Produktion ausgelagert bzw. ausgegliedert worden seien. Im Frühjahr 2010 hat sie förmlich beantragt, der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) zugewiesen zu werden, da sich ihr Betätigungsfeld nach der Verlagerung des letzten produzierenden Betriebs ins Ausland ganz auf den Bereich von IT-Dienstleistungen, deren Vertrieb und Verwaltung beschränke. Die BG ETEM hat den Antrag abgelehnt. Die VBG hat den Wechsel befürwortet, da das Unternehmen nach den Änderungen in den Betriebsverhältnissen besser zu ihr, in die ihr zugewiesene Gefahrengemeinschaft, passe. 

Die bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung angesiedelte Schiedsstelle für Katasterfragen hat 2012 gegen einen Wechsel votiert, da die Änderungen in der Betriebsstruktur letztlich nicht so erheblich seien, dass der Branchenbezug zur BG ETEM nicht mehr bestehe. Der Schiedsspruch hat aber keine verbindliche Wirkung und hat es der Klägerin ermöglicht, ihren Wechselwunsch gerichtlich klären zu lassen. 

In erster Instanz ist die Klage der Klägerin gegen die BG ETEM auf Überweisung an die VBG erfolgreich gewesen. Das Sozialgericht Stuttgart ist von einer wesentlichen Änderung der betrieblichen Verhältnisse ausgegangen und hat den Kernbereich des Geschäfts im Dienstleistungsbereich gesehen. 

Gegen diese Entscheidung hat die BG ETEM Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt, da sich nach ihrer Auffassung die Verhältnisse nicht maßgeblich geändert hätten. Sie hat u.a. vorgebracht, die VBG betreibe zu Lasten anderer Sozialversicherungsträgerinnen Akquisition im Bereich von IT und Telekommunikation und versuche, mit geringen Beiträgen Unternehmen „abzuwerben“. Die VBG hat sich dazu nicht geäußert. Die Klägerin hat vorgebracht, neben des geringeren Beitrages gehe es ihr auch darum, ihre Beschäftigten bestmöglich zu versichern. 

Die Richter des 6. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg haben das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und damit die Rechtsauffassung der BG ETEM bestätigt. Das Unternehmen der Klägerin ist nach Auffassung des Senats nicht grundlegend und auf Dauer umgestaltet worden. Auch wenn die Entwicklung und Herstellung elektronischer Erzeugnisse nicht mehr im Vordergrund steht, ist sie nach wie vor bei Erzeugnissen wie Server, Datenspeicher und Netzwerktechnologie maßgeblich am Wertschöpfungsprozess und der Ablauforganisation beteiligt. Ohne die angebotenen Produkte Rack-, Tower- und Bladeserver, Speicher oder Netzwerke würde das Unternehmen der Klägerin in der heutigen Form nicht existieren. Die Tatsache, dass Kundendienstleistungen wegen des technischen Fortschrittes heute häufig in elektronischer Form von Büroarbeitsplätzen aus erfolgen, führt nicht zu einer Einstufung als „verwaltendes“ Unternehmen („gewerbliches Büro“), für das die VBG zuständig wäre, und nicht zur Zuordnung zum Gewerbezweig der VBG. 

Hintergrund:

Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung werden Unternehmen verschiedenen Gewerbezweigen zugeordnet, für die jeweils unterschiedliche Berufsgenossenschaften zuständig sind. Für diese Zuordnung kommt es nicht auf die Art der Arbeitsplätze, sondern im Wege einer Gesamtbetrachtung auf die Erzeugnisse, die Produktionsweise, die verwendeten Werkstoffe, die eingesetzten Maschinen und die Betriebseinrichtungen sowie die Arbeitsumgebung an (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 05.09.2006 – B 2 U 27/05 R). 

Die Rechtsgrundlagen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung sind teilweise sehr alt, da der Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts Weitblick bewiesen und Formulierungen gefunden hat, die auch heute noch durchaus zeitgemäß wirken. Die BG ETEM kann ihre Zuständigkeit auf einen Beschluss des damaligen Bundesrates aus dem Jahr 1885 („Verfertigung von mathematischen und physikalischen Instrumenten und Apparaten sowie Telegrafen- und Telefonanlagen und Telefonapparate“) und auf das vom Reichsversicherungsamt in der damaligen Zeit aufgestellte Alphabetische Verzeichnis der Gewerbezweige („Herstellung und Installation elektrischer Anlagen, Maschinen und dergleichen“) zurückführen. 

Sozialgesetzbuch VII – Gesetzliche Unfallversicherung

 

§ 136 Absatz 1 Sätze 4 und 5, Absatz 2 Sätze 1 und 2 SGB VII:

(1) War die Feststellung der Zuständigkeit für ein Unternehmen von Anfang an unrichtig oder ändert sich die Zuständigkeit für ein Unternehmen, überweist der Unfallversicherungsträger dieses dem zuständigen Unfallversicherungsträger. Die Überweisung erfolgt im Einvernehmen mit dem zuständigen Unfallversicherungsträger; sie ist dem Unternehmer von dem überweisenden Unfallversicherungsträger bekanntzugeben.

(2) Die Feststellung der Zuständigkeit war von Anfang an unrichtig, wenn sie den Zuständigkeitsregelungen eindeutig widerspricht oder das Festhalten an dem Bescheid zu schwerwiegenden Unzuträglichkeiten führen würde. Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse …, die zu einer Änderung der Zuständigkeit führt, liegt vor, wenn das Unternehmen grundlegend und auf Dauer umgestaltet worden ist.

 

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